In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt der Sumner Methode größtes Interesse und es wurde darüber diskutiert, auf welche Weise Fehler in der Verwendung der beobachteten Höhe, egal woraus diese resultieren, direkt aus der Winkelmessung oder aus der Beschickung einer Sextantenablesung korrigiert werden können. So gab es im Oktober des Jahres 1873 in einer Zeitschriftenveröffentlichung eines Fregattenkapitäns mit dem Namen Marcq Saint Hilaire eine Notiz dazu. Diese lautet in deutscher Übersetzung:
„Wenn man also nach der Berechnung und dem Konstruieren einer Höhe bemerkt, dass bei dieser Höhe ein gewisser kleiner Fehler [wie Ho – He] begangen wurde, korrigiert man die resultierende Höhe, mit einer Parallelen zu der bereits gezeichneten Linie [Positionslinie] in einer Entfernung in Meilen, die dem erwarteten Fehler in Minuten entspricht, in Richtung des Himmelskörpers [Azimut, Z] oder in die entgegengesetzte Richtung, je nachdem, ob die verwendete Höhe zu klein oder zu groß war.“
Diese Korrekturidee war nicht neu und konnte in den meisten Navigationslehrbüchern der damaligen Zeit im Zusammenhang mit der Erörterung der Sumner Methode gefunden werden. Hilaires Beitrag bestand darin, zu erkennen, dass dieselbe Korrekturidee auch auf die Differenz zwischen der vom Schiffsort aus beobachteten Höhe eines Himmelskörpers und der Höhe von einer angenommenen naheliegenden Position aus angewendet werden kann, um die wahre Standlinie zu bestimmen. Es dauerte dann aber noch knapp zwei Jahre, bis Hilaire seine Methode veröffentlichte. In einer zweiten Publikation beschreibt Hilaire seine Methode genau. Am Ende seiner Ausführungen fasst er den Kern seiner Überlegungen in wenigen, kurzen Sätzen zusammen. Die deutsche Übersetzung lautet:
„Zusammengefasst gilt: Zum Berechnen einer Beobachtung berechne die Höhe [He] und das Azimut [Z] des Sterns für die DR-Position [e] und den Beobachtungszeitpunkt. Subtrahiere die berechnete Höhe von der beobachteten Höhe [Ho – He]. Betrachte diese Differenz als einen Versatz des Schiffes. Dabei ist der Kurs durch das Azimut gegeben und die Distanz durch die Höhendifferenz. Korrigiere die Position [e’] entlang dieser Route.“
Zuerst wird also die Sonne beobachtet und die beobachtete Höhe hm sowie die sekundengenaue Zeit der Beobachtung werden festgestellt und festgehalten. Im Weiteren müssen Länge und Breite eines Schätzortes bzw. Gissortes festgelegt werden. Hilaire hat den Koppelort als Gissort vorgeschrieben. Für diesen Ort werden jetzt die Höhe der Sonne zum Beobachtungszeitpunkt und das Azimut berechnet. Dazu sind zwei Formeln nötig, die wohl als die wichtigsten und am häufigsten gebrauchten in der Navigationsgeschichte der vergangenen 150 Jahre gelten. Deshalb werden sie an dieser Stelle auch gezeigt, ohne dass näher darauf eingegangen wird. Die Formeln lauten:
(1)
(2)
Hierin ist t der LHA (Local Hour Angle) des Gissortes. Das ist sein Ortsstundenwinkel und damit die nach Westen zählende Meridiandistanz zum Bildpunkt der Sonne. Der LHA ist rechnerisch die Summe aus dem Ortsstundenwinkel des Nullmeridians (Grt) und dem Längengrad des Gissortes, wobei zu beachten ist, dass Westgrade ein negatives Vorzeichen haben. Den Greenwichwinkel Grt und die Deklination liefert ein Nautisches Jahrbuch. Die Höhe hc kann damit berechnet werden und wird weiter zur Berechnung des Azimuts z* gebraucht. Das Sternchen am z bedeutet, dass es nur das Azimut für Beobachtungen bis zum Schiffsmittag ist. Das Azimut am Schiffsnachmittag errechnet sich als Differenz zwischen 360° und z*.
Zur Konstruktion wird eine Seekarte oder eine Leerkarte gebraucht. In Leerkarten sind die Meridianabstände den Abständen der Breitenkreise so angepasst, dass Winkel mit einem normalen Winkelmesser ohne Umrechnung direkt eingezeichnet werden können. Begonnen wird mit einem kleinen Kreuz, das die Position des Gissortes markiert. Durch diese Markierung wird jetzt eine Linie im Winkel des ausgerechneten Azimuts gezogen. Das ist der Azimutstrahl Az. Als Nächstes wird die Differenz
= hm – hc, die in Bogenminuten vorliegt als Distanz in Seemeilen vom Gissort ausgehend auf dem Azimutstrahl abgetragen.
Das Vorzeichen dieser Differenz ist jetzt sehr wichtig. Ist es positiv, dann erfolgt die Abtragung, wie im Bild gezeigt, in Richtung Sonne. Das Schiff war dann während der Beobachtung näher an der Sonne, als der Gissort und man musste den Blick quasi höher richten. Ist die Differenz negativ, dann wird sie auf dem Azimutstrahl vom Gissort und von der Sonne weg abgetragen. An der Stelle, an der eine Abtragung endet, wird die Standlinie senkrecht zum Azimutstrahl eingezeichnet. Das Bild ist eine sehr verzerrte Darstellung, in der sogar der Bildpunkt der tausende Meilen entfernten Sonne eingezeichnet ist. Der Gissort als neuer Bezugspunkt für beide Beobachtungen ermöglicht Konstruktionen in seinem Nahfeld, ein Vorteil für zeichnerische Lösungen. Ein Standort ergibt sich wie bei Sumner als Kreuzungspunkt mit einer zweiten, einige Stunden später beobachteten Standlinie.
Diskussion
Saint Hilaire erfand also kein neues Navigationsverfahren. Das überragende und bleibende historische Verdienst bestand vielmehr darin, die Konstruktionsweise der von Thomas Sumner erfundenen Standlinien so modifiziert zu haben, dass die grafische Standlinien-Navigation sehr viel zielsicherer und genauer ausgeführt werden konnte. Aus einer gezeichneten Konstruktion konnten Standorte nun recht genau herausgelesen werden. Das war zu jener Zeit sehr wichtig, denn es gab keine Computer.
Als Preis dafür musste Hilaire auch Nachteile in Kauf nehmen. Genau wie bei der Sumner Methode gibt es auch hier eine mit der gemessenen Höhe steigende Fehlerwahrscheinlichkeit. Standortabweichungen entstehen immer dann, wenn Bildpunkt der Sonne, Gissort und Standort nicht alle genau in gerader Linie auf dem Azimutstrahl angeordet sind. Die Größe der dadurch entstehenden Standortabweichungen sind von der gemessenen Gestirnshöhe abhängig. Deshalb sollten Höhen über 80° nicht gemessen und verwendet werden. Weil der Gissort nie so gewählt werden kann, dass er mit dem Standort auf dem Azimutstrahl liegt, wird das Ergebnis immer eine Näherung bleiben. Eine Standortabweichung würde sehr klein werden, wenn ein ermitteltes Standortergebnis als neuer Gissort in einer Wiederholung der Methode verwendet wird. Eine derartige Iteration würde die Genauigkeit erheblich steigern, die Bestimmung eines Gissortes aber nicht überflüssig machen. Die vorherige Schätzung des eigenen Standortes durch Angabe von Schätzbreiten oder Schätzorten ist ein Kennzeichen grafischer Navigationsverfahren.