Es gibt genug Gründe, auch heute noch astronomisch navigieren zu können. Doch nur wenige Skipper beherrschen dieses Handwerk routiniert genug und finden einen Standort mit Hilfe von Sonne, Mond, Sternen und Planeten. Für diese Segler ist die klassische Astronavigation ein Hobby in dessen Verlauf sie sich alle dafür erforderlichen Kenntnisse angeeignet haben und diese Methode nun pflegen.
Üblicherweise wird dafür das Höhendifferenzverfahren nach Saint Hilaire, manchmal aber auch die darauf beruhende Tafelmethode benutzt. Beide sind recht komplex und besitzen viele aufeinanderfolgende Verfahrensschritte. Ein Standort wird grafisch als Kreuzungspunkt zweier zu konstruierender Standlinien gefunden. Die Benutzung des Verfahrens erfordert eine vorherige Schätzung des eigenen Standortes. Es ist eine Näherungsmethode, die als Ergebnis nicht den Standort liefert, sondern die vorherige Standortschätzung wesentlich verbessert. Abweichungen von der tatsächlichen Position sind also davon abhängig, wie genau die Schätzung erfolgen konnte. Zusätzliche Positionsfehler ergeben sich, wenn Gestirnshöhen von mehr als 70 Grad gemessen und verwendet werden.
Digitalisierung
Selbstverständlich kann diese Methode auch voll digitalisiert werden und tatsächlich beruhen bis heute fast alle bekannt gewordenen Navigationsprogramme darauf. Nach Eingabe einer Standortschätzung müssen dann nur noch Zeit und Höhe von zwei Gestirnsbeobachtungen eingetippt werden und das Programm gibt einen Schiffsort aus. Hier muss man sich aber wirklich fragen, ob auf diese Weise nicht eine alte Not zu einer neuen Tugend gemacht wurde?
Mehr als 100 Jahre vor Saint Hilaire wusste man schon sehr genau, wie ein Standort auf See aus nur zwei Gestirnshöhen direkt und mathematisch präzise bestimmt wird und zwar ohne Schätzort, und ohne Einschränkung in der zu messenden Höhe. Nur weil es damals keine Computer gab und zeitaufwendige Berechnungen mit Logarithmen an Bord nicht vertretbar waren, musste notwendigerweise auf das grafische Verfahren von Saint Hilaire ausgewichen werden.
Heute haben wir Computer und damit folgt, dass dieses klassische Verfahren als Grundlage für ein modernes Navigationsprogramm die wohl schlechteste Wahl überhaupt ist. Es ist – digitalisiert – weder eine moderne Lösung noch hat es etwas mit der Pflege alter Seefahrer-Traditionen zu tun. Warum?
- Wer nur mal mit einem Sextanten navigieren möchte, ohne dafür gleich einen riesigen Aufwand betreiben zu müssen, oder einfach nur ein Notfall Navigationssystem an Bord haben möchte, der braucht ein Astro-Navigationsprogramm, das kinderleicht anzuwenden ist, ohne Schätzort auskommt, präzise Ergebnisse liefert und keine Einschränkungen besitzt – aber gerade das bietet die Hilaire Methode eben nicht.
- Wer die klassische Navigation betreibt der arbeitet bewusst nach alter Schule grafisch, verwendet nautische Unterlagen aus Papier und nutzt elektronische Unterstützung nur zum Ausrechnen einzelner Formeln. Der will kein vollautomatisches Programm, da könnte er besser gleich mit Satelliten navigieren.
Wenn das Hobby nur darin besteht, den Weg mit einem Sextanten zu finden, dann sollte auf jeden Fall ein modernes Astronavigationsprogramm benutzt werden, ein Programm, das einen Standort ausschließlich auf algebraischem Weg, also durch pure Berechnung, findet. Programme auf der Basis des grafisch basierten Höhendifferenzverfahrens von Saint Hilaire sollte man lassen, denn sie erforden eine naheliegende Standortschätzung, die in einem plötzlichen Notfall weit draußen überhaupt nicht mehr möglich ist. Außerdem sind ungenauer und haben ihre Genauigkeitsgrenzen schon bei Gestirnshöhen über 70°. Für ein modernes Programm zur Astronavigation eignen sich allerdings nur die exakten und direkten Methoden, die schon im 18. Jahrhundert bekannt waren oder auch die Methode des Carl Friedrich Gauß.
In der Praxis
Die allermeisten Segler geht das Thema Astronavigation nichts an. Sie wollen überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, dass Satellitennavigation irgendwann mal nicht funktionieren könnte. Außerdem denken alle, dass Astronavigation extrem aufwändig ist und im Notfall sowieso nichts nützt, weil die dazu nötigen Kenntnisse und Voraussetzungen in dem Moment wo man sie braucht, nicht oder nicht mehr vorhanden wären. Dass dies alles nur für das Höhendifferenzverfahren nach Hilaire gilt und nicht für ein modernes Verfahren, wie es hier beschrieben ist, hat sich noch nicht herumgesprochen.
Manchmal sind es auch die Kosten. Ein Sextant ist ja nicht gerade ein Schnäppchen und wird je nach Ausführung so zwischen 300 Euro und 1000 Euro zu Buche schlagen. Übungssextanten aus Plastik kosten nur etwa 60 Euro. Doch auch die wären in einem Notfall besser als nichts. Zusammen mit der kostenlosen App „Sun Navi Base“wäre das sogar der Mindestaufwand für ein sicheres Ankommen.
Ein Ausfall von Satellitensignalen, direkt oder indirekt, ist in der Tat sehr unwahrscheinlich aber nicht unmöglich und deshalb sollte auch dagegen Vorsorge getroffen sein. In Neuseeland, ist das seit 2019 sogar gesetzlich vorgeschrieben. In Deutschland gibt es dafür nur eine Empfehlung. Letztendlich sollte das Mitführen eines Notfall Navigationssystems genauso betrachtet werden, wie das Mitführen einer EPIRB-Notrufbake oder einer Rettungsinsel.
Eine einfache Astronavigations Methode für jedermann ist natürlich auch für all jene attraktiv, die immer schon mal gerne mit einem Sextanten navigiert hätten, wegen des damit verbundenen Aufwandes jedoch darauf verzichtet haben. Das hat sich inzwischen geändert und jeder kann jetzt seine Position mit einem Sextanten finden, direkt und genau. Und das ohne vorherige Standortschätzung, ohne Einschränkung in der zu messenden Höhe, ohne Rechnen, ohne Zeichnen, ohne Wühlen in nautischen Unterlagen und natürlich ohne Lehrgang. Nur die Handhabung eines Sextanten sollte geübt sein. Das kann aber auch sportlich gesehen werden.
Navigationsgestirn
Ein Astro-Navigationssystem für jedermann kann nur mit der Sonne als Navigationsgestirn funktionieren, weil dadurch eine Verwechselung mit einem anderen Gestirn ausgeschlossen ist. Nur Spezialisten finden sich auch im gesamten Sternenhimmel zurecht, denn das will gelernt sein. Allein mit der Sonne zu navigieren, ist grundsätzlich kein Nachteil. Viele Kapitäne in den letzten Jahrhunderten haben ihr ganzes Leben lang erfolgreich ausschließlich mit der Sonne navigiert.
Natürlich kann auch mit dem Mond, den Planeten und den Fixsternen navigiert werden. Die Vorteile, die sich daraus ergeben, sind allerdings nicht so überragend, dass man darauf nicht verzichten könnte. So sind die Höhen der Sterne und Planeten nur in den kurzen Zeiten der Dämmerung zu beobachten, weil in dunkler Nacht der Horizont nicht sichtbar ist. Zwar bekommt man mit Sternen einen Standort sofort und ohne Zwischenzeiten und kann Versegelungen vernachlässigen. Auf die Gelegenheit einer neuen Standortbestimmung muss dann jedoch bis zur nächsten Dämmerung gewartet werden.
Der Mond wäre auch nur am Tage für eine Navigation brauchbar. Wenn er mal sichtbar ist, dann könnte ohne Zwischenzeit ein Standort aus Sonne und Mond bestimmt werden. In der Nacht ist der Mond nicht hilfreich, denn sein Licht hebt die Kimm optisch an, was zu erheblichen Beobachtungsfehlern führt. Auch Sterne können deshalb im Mondlicht nicht beobachtet werden. All diese Gründe führen letztlich zu dem Schluss, dass ein Astro-Navigationssystem für jedermann, das auch als Notfallsystem verwendbar sein soll, nur mit der Sonne sicher funktionieren kann.
Nautische Unterlagen
Gestirnspositionen
Es ist bekannt, dass für die Astronavigation ein Nautisches Jahrbuch erforderlich ist, in dem die Positionen aller für die Navigation geeigneten Himmelskörper in Tabellenform erfasst sind. Für die Navigation nur mit der Sonne reicht ein sogenannter Sun Almanach. Diese Jahrbücher gelten allerdings nur für ein bestimmtes Jahr. Das Nautische Jahrbuch des BSH erschien nach langer Tradition, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, letztmalig für das Jahr 2020. Die Angaben in den Jahrbüchern sind nach Berechnung mit Großrechnern gedruckt worden. Zum Berechnen der Ephemeriden der Sonne mit ausreichender Genauigkeit eignet sich heutzutage schon jeder Heimcomputer und jedes Mobilgerät. Die gedruckten Bücher sind also nur noch dann erforderlich, wenn wirklich klassisch mit grafischen Konstruktionen von Standlinien auf Papier navigiert werden soll. Dann müssen sie aber auch immer aktuell gehalten und für jedes Jahr neu angeschafft werden,
Sextantenbeschickung
Die Jahrbücher enthielten aber auch Tabellen zur Unterstützung bei der Berichtigung von Sextantenablesungen, für eine sogenannte Sextantenbeschickung. Zur Gesamtbeschickung muss beachtet werden, dass die Sonnenstrahlen je nach Einfallswinkel eine andere Wegstrecke durch die Atmosphäre nehmen und dadurch unterschiedlich stark gebrochen werden. Damit ist der am Sextanten abgelesene Höhenwinkel, bei Winkeln von <90° optisch größer als er tatsächlich ist. Außerdem ist die Standhöhe des Beobachters bzw. die Höhe des Sextantenteleskops über der Wasseroberfläche zu beachten. Der Kamm einer Welle dient hierbei als Bezugsmaß. Je höher man steht, desto weiter weg und gleichzeitig tiefer wird der Horizont gesehen, weil die Erdoberfläche eine Rundung ist. Diese mit steigender Beobachtungshöhe zunehmende Kimmtiefe muss ebenfalls von der Sextantenablesung abgezogen werden.
Als letztes ist dann noch die sogenannte Zusatzbeschickung zu beachten. Weil sich die Höhe der Sonne über dem Horizont auf die Mitte der Sonnenscheibe beziehen muss, mit dem Sextanten aber nur deren Unterkannte oder Oberkannte gepeilt werden kann, muss die Hälfte der Sonnenscheibe als Berichtigung eingerechnet werden. Der Durchmesser der Sonnenscheibe ist aber nicht konstant. Sie ist größer, wenn auf der Nordhalbkugel Winter ist, weil die Erde dann auf ihrer elliptischen Umlaufbahn der Sonne am nächsten ist.
Eine Sextantenbeschickung kann ein Rechner automatisch erledigen, wenn ihm die Sextantenablesung eingegeben wird und er das Datum kennt. Außerdem müssen ihm mitgeteilt werden, wie hoch der Sextant über der Wasseroberfläche gehalten wird und ob die Sonne mit ihrem Unterrand oder ihrem Oberrand auf den Horizont gesetzt wird. Letzteres kann zeitweise für eine weitere Verwendung eingespeichert bleiben.
Versegelung
Wenn nur mit einem Gestirn wie der Sonne navigiert wird, muss immer gewartet werden, bis diese zwei genügend unterschiedliche Positionen eingenommen hat. Es erfolgt also eine erste Beobachtung und nach Ablauf einer Zwischenzeit von mehreren Stunden eine zweite Beobachtung. Wenn in dieser Zwischenzeit eine Ortsveränderung erfolgt, eine sogenannte Versegelung, dann müssen Kurs und Distanz dieses Versegelungs-Vektors in der Standortberechnung berücksichtigt werden. In der klassischen Navigation wird mit Standlinien gearbeitet und eine Versegelung wird dadurch berücksichtigt, dass von einem beliebigen Punkt der Standlinie aus erster Beobachtung Kurs und Distanz der Versegelung abgesetzt werden. Die Standlinie wird dann parallel auf den Endpunkt des Versegelungs-Vektors verschoben. Der versegelte Standort ist die Kreuzung von verschobener Standlinie und Standlinie aus der zweiten Beobachtung.
Standlinien ersetzen ein kurzes Stück der Kreislinie einer Höhengleiche bzw. eines sphärischen Höhenkreises. In der Realität bewirkt eine Versegelung, dass sich der Radius des Höhenkreises ändert, was in einer Berechnung leicht durch eine sogenannte Höhenanpassung berücksichtigt werden kann.
Die Gauß Methode
Die verschiedenen Navigationsmethoden werden eingeteilt in grafische Methoden und analytische Methoden. Streng genommen existiert jedoch nur eine einzige analytische Methode und das ist die Methode von Carl Friedrich Gauß, dem wohl berühmtesten Mathematiker aller Zeiten. Alle anderen nicht grafischen Methoden arbeiten auf der Grundlage von algebraischer Geometrie.
Die echte Gauß Methode wurde seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 1812 nie wieder angefasst. Sie fand keinen Eingang in die Seefahrt und war auch nie ein Thema in der Literatur, weder national noch international. Doch seltsam genug wurde von nachfolgenden Autoren die – „Methode zur Berechnung der Breite oder eines Standortes direkt aus den Höhengleichen“ – als Gauß Methode verkauft. Dabei war diese Methode schon vor Gauß bekannt. Sie wurde in den Jahren 1778 bis 1790 mehrfach von verschiedenen Autoren beschrieben, unter anderem von Franz Xaver Freiherr von Zach, einem späteren Freund von Gauß und hat mit Gauß überhaupt nichts zu tun.
Gauß kannte natürlich diese geometrische Berechnung. Er wollte jedoch einen anderen, nicht geometrischen, sondern analytischen Lösungsweg beschreiten. Das führte nicht nur auf die Breite, sondern gab gleichzeitig auch die Zeit am Standort an, woraus dann auch die Länge bestimmbar wurde. Gauß brauchte auf diesem Weg keine einzige Formel aus der sphärischen Trigonometrie. Diese ist allerdings bis heute die mathematische Grundlage der Astronavigation überhaupt. Erst dadurch ist zu verstehen, dass die echte Gauß Methode mit ihrem völlig fremdartigen Rechenweg und ihren seltsamen Formeln, die nichts erkennbar beschreiben, zu keiner Zeit Beachtung gefunden hat. Die Gauß Formeln, so wie sie in der App „Sun Navigation“verwendet werden und eine vergleichende Anwendung auf Excel Basis ist hier zu finden.
Nach ihrer Wiederentdeckung und erstmaligen Verwendung in einer Navigations-App tauchten während der praktischen Erprobung plötzlich Fehler auf. Wenn die Höhengleichen nicht mehr ausreichend überlappten oder die Höhen zu klein wurden gab es plötzlich keine oder völlig falsche Ergebnisse. Es stellte sich heraus, dass die Gauß-Formeln bestimmten Bedingungen angepasst werden müssen, damit sie funktionieren. Dass dieser Umstand erst 210 Jahre nach ihrer Erstveröffenlichung bemerkt werden konnte, beweist einmal mehr dass die echte Gauß Methode bis heute tatsächlich verschollen war.
Standortbestimmung mit der App Sun Navigation
Voraussetzung ist zunächst eine gut sichtbare Sonnenscheibe. Die Sonne sollte dabei nicht zu tief stehen, damit ihre Stahlen beim Durchgang durch die Atmosphäre nicht zu stark gebrochen werden. Man sagt nicht tiefer als 20°. Größere Höhen liefern in jedem Fall bessere Resultate. Zur genauen Feststellung der Beobachtungszeit ist eine Stoppuhr erforderlich, die zu einer vollen Minute der Weltzeit UTC gestartet und am besten von einem Mitsegler gehalten wird. Dieser stoppt die Uhr auf Zuruf, durch den Beobachter, sobald dieser die Sonne im Teleskop des Sextanten auf den Horizont gesetzt hat. Die Beobachtungszeit ergibt sich dann als die Zeit, in der die Stoppuhr gestartet wurde plus Laufzeit der Stoppuhr. Beobachtungszeit und Sextantenablesung sind die Daten der ersten Beobachtung und werden nun in das Programm eingegeben.
Weil eine zweite Beobachtung erst nach Ablauf einer Zwischenzeit durchgeführt werden sollte, mindestens jedoch eine Stunde später, muss die bis dahin stattfindende Ortsveränderung bekannt sein. Hierzu sind am einfachsten die mittlere Geschwindigkeit in Knoten und der mittlere Kurs in Grad einzuschätzen. Genauere Ergebnisse sind unter Verwendung des in der pro-Version integrierten Dead Reckoning Recorders möglich. Dazu müssen dann alle jeweils gefahrenen Kurse, Geschwindigkeiten und Meeresströmungen eingegeben werden.
Die zweite Beobachtung läuft dann genauso ab wie die erste Beobachtung. Nach Eingabe der Daten dieser zweiten Beobachtung und Eingabe der Versegelungsdaten, sofern diese nur eingeschätzt worden sind, berechnet die App die Position zum Zeitpunkt der zweiten Beobachtung. Diese Position wird als „Last Position“ als Zahl und Schiffsymbol auf der elektronischen Karte ausgegeben. Bei Verwendung des Dead Reckoning Recorders wird fortlaufend weiter auch der Track und eine DR-Position als Zahl und als Schiffsymbol ausgegeben.
Zwischenzeit
Im Vergleich mit der Höhendifferenzmethode bzw. Intercept Methode von Saint Hilaire ist die Gauß Methode präziser. In der Benutzung gibt es keine Begrenzung in der maximalen Höhe. Bei Benutzung der Intercept Methode sollten Höhen über 80°, besser bereits 70°, nicht mehr verwendet werden. Auch ist es bei Gauß überflüssig, dass vor dem Beginn einer Standortermittlung ein Standort geschätzt werden muss. Bei einer grafischen Methode sollten sich die Standlinien aus zwei Beobachtungen in einem Winkel schneiden, der größer als 30° ist. Weil die Gauß Methode nicht grafisch arbeitet, könnte davon ausgegangen werden, dass auch bedeutend kürzere Zwischenzeiten zugelassen sein können. Leider ist das nicht der Fall. Allgemein nimmt die Fehlertoleranz mit steigender Zwischenzeit zunächst ab, um dann bei sehr großen Zwischenzeiten wieder anzusteigen. Wie ist das zu erklären?
Theoretisch wird ein Standort mit der Gauß Methode auch dann noch fehlerfrei berechnet, wenn die Zwischenzeit nur eine Minute lang ist. Das gilt aber nur, wenn die eingegebenen Höhen für die vorgegebenen Zeiten absolut fehlerfrei sind. In der Praxis sind Fehler bei der Messung von Höhe und Zeit unvermeidbar. Ursache für Standortabweichungen ist aber nicht der Kreuzungswinkel selbst, mit denen sich die Kreislinien beider Kreise überschneiden. Die Ursache liegt vielmehr darin, dass bei Höhenfehlern die Durchmesser der sich schneidenden Kreise nicht stimmen. Zur Beurteilung eines Standortergebnisses sollte also geprüft werden, wie sich der Schnittpunkt zwischen den Kreisen verändert, wenn sich der Durchmesser eines Kreises durch Messfehler verändert. Ein Standort, der am Ende mehr im Westen des Höhenkreises der ersten Beobachtung berechnet wurde schneidet sich mit dem zweiten Höhenkreis durch mehr oder weniger senkrecht verlaufende Linien. Höhenfehler beider Beobachtungen wirken sich hier in gleichem Maße vor allem in der berechneten Breite aus. Erfolgt eine Beobachtung in Mittagsnähe, oder nutzt man sogar die Mittagsbreite selbst, dann wirken sich Höhenfehler der anderen Beobachtung nur in der Länge aus. Von dieser Art Fehler, die bei der Anwendung von Gauß oder einer „Standortberechnung direkt aus den Höhengleichen“ wirkt, ist natürlich auch das Höhendifferenzverfahren nicht befreit. Es fällt aber nicht direkt auf, weil hier 30° als kleinster Schnittwinkel zwischen den Standlinien gilt. Auf keinen Fall sollte die Zwischenzeit auch bei Gauß kleiner als eine Stunde sein. Näheres zu Zwischenzeiten in zwei Standortbeispielen ist im Beitrag „Zwischenzeit“ zu finden.
Standort mit Mobiltelefon
Zum Schluss noch eine Bemerkung zum Mobiltelefon, das einen Standort aus Satellitenpositionen jederzeit irgendwo auf dem Ozean ausgeben kann. Das ist zwar richtig, aber ohne Papierseekarte an Bord überhaupt nicht hilfreich. Was würde es denn nützen, wenn auf dem Handy die Position 32° 26’ 46’’ N | 15° 17’ 24’’ W angezeigt wird. Welchen Kurs sollte man nun absetzen, um Sao Martinho auf der Insel Madeira zu erreichen. Ohne eine zusätzliche ausreichend genaue Papierseekarte wird man das nicht machen können.
Weltumsegler hätten aber gleich noch ein weiteres Problem. Wie sollten sie mit nur einer Position eine Riff-Einfahrt finden. Dazu wären dann ziemlich genaue und hochauflösende Papierseekarten erforderlich. Beide gerade genannten Fälle wären mit einer App, wie sie hier beschrieben wird, ziemlich sicher zu lösen, weil die Karten auf dem Display vorhanden sind.
Was aber, wenn auch die Satellitensignale fehlen? Das ist zwar äußerst unwahrscheinlich, kann aber passieren und ist schon passiert. In unseren immer kriegerischer werdenden Zeiten versuchen die Gegner natürlich auch, die Signale der Satelliten ihrer Feinde auszuschalten oder zu stören. Das passiert momentan vor allem durch Störsender, dessen momentane noch geringe Reichweiten aber immer größer zu werden scheinen. So kam es im Frühjahr 2022 über der gesamten östlichen Ostsee zu einem Ausfall sämtlicher Satellitensignale durch russische Jammer infolge des Ukrainekrieges. Flugzeuge konnten nicht mehr starten und das AIS funktionierte auch nicht mehr.
Klimawandel und Satellitennavigation
Auch das gehört zur Vollständigkeit noch genannt, dass man sich auch wegen des Klimawandels nicht ganz und gar von vollelektronischen Navigationssystemen abhängig machen sollte. Mir selbst ist es auf dem Mittelmeer passiert, dass sich mein B&G-Kartenplotter einfach verabschiedete, weil ihm zu heiß geworden war. Ich habe ihn dann sicherheitshalber ausgeschaltet. Er war nicht kaputt und ließ sich nach Abkühlung auch wieder starten. Doch für den Rest des Tages bis zum späten Nachmittag und an den ebenso heißen Folgetagen habe ich mit meinem Sextanten navigiert. Mir war es einfach wichtig, die Elektronik zu schonen, damit sie dann auch ihren Dienst tut, wenn ich später in Küstennähe wirklich mal auf sie angewiesen sein sollte. Bis zu diesem Ereignis hatte ich es noch nicht auf der Rolle, dass auch der Klimawandel der vollelektronische Navigation ein Ende bereiten kann.